Hüseyin Çiçek in der Neuen Zürcher Zeitung: Bleibt Erdogan Herr im Haus? Die Türkei vor entscheidenden Tagen

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Bild: Erdem Sahin / EPA

Hüseyin Çiçek, Politologe  und assoziiertes Mitglied des EZIRE, befasst sich in einem Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Juni 2019 mit der anstehenden Wahlwiederholung in Istanbul und der Zukunft der Türkei.

Für die Türkei seien die nächsten Tage richtungsweisend – die Wiederholung der Wahlen in Istanbul könnte zeigen, dass die Repression im Innern nicht mehr funktioniere. Die Übermacht der AKP habe auf dem ökonomischen Boom beruht, nun, da die Schuldenwirtschaft in sich zusammenfalle, würden Erdogan auch außenpolitische Abenteuer nicht helfen. Auch wenn der türkische Präsident sich keine Sorgen zu machen brauche, abgewählt zu werden, habe er derzeit an drei Fronten zu kämpfen – ohne Sicht auf Erfolge. Die Probleme stellten sich auf militärischer, politischer und wirtschaftlicher Ebene. Die AKP und die ihr ergebenen Medien könnten nur noch bedingt vom ökonomischen Schlamassel ablenken, in das Erdogan die Türkei gesteuert habe.

Die Wahlwiederholung in Istanbul vom nächsten Wochenende könnte in eine zweite Niederlage münden. Hinzu komme, dass der Gezi-Prozess einen Tag später beginne, und es sei anzunehmen, dass die AKP, unabhängig vom Wahlausgang, ihren autoritären Kurs einmal mehr durch exemplarisch harte Strafen bekräftigen werde. Parallel dazu schaukele sich die Krise mit Washington bezüglich des Kaufs von S-400-Raketen weiter hoch – mit der Wahl russischer Rüstungstechnik befördere sich Ankara weiter ins Abseits. All diese Entwicklungen setzten eine politische Negativspirale in Gang und führten dazu, dass die Türkei international kontinuierlich an Vertrauen und Glaubwürdigkeit verliere.

Die Jahre, in denen die AKP ökonomisch erfolgreich agierte, seien vorbei. Dies liege vor allem daran, dass die AKP sich bewusst für eine auf niedrigen Zinsen beruhende Wirtschaftspolitik entschied. Der private Sektor boomte, und mit billigem Geld konnten riesige öffentliche Investitionsprojekte finanziert werden, allerdings um den Preis einer wachsenden und kaum zu tilgenden Staatsverschuldung, die den Kurs der Lira drückte. Die AKP nehme bewusst die Schwächung der türkischen Währung in Kauf, um ihre eigene, auf dem allgemeinen Wachstum basierende Popularität nicht zu gefährden. Im Moment könnte der Türkei nur der Internationale Währungsfonds mit massiven Finanzspritzen aus der selbstverschuldeten Wirtschaftskrise helfen. Allerdings flössen die Gelder nur, wenn Erdogan den von ihm eingeschlagenen autoritären Kurs revidiere, wozu er keine Anstalten mache. Das Land müsse nicht nur wieder solide wirtschaften, sondern auch auf den Pfad von Demokratie und Rechtsstaat zurückkehren, um wieder attraktiv für ausländisches Kapital zu werden. Die Intensivierung der politischen Beziehungen mit Russland und die innere Abkehr vom Westen zeugten davon, dass Erdogan den wirtschaftlichen Sorgen der Türken kaum Rechnung trage.

Nicht allein die kommende Wahlwiederholung in Istanbul am 23. Juni sei von eminenter Bedeutung für die politische Zukunft der Türkei, sondern auch und vor allem der 24. Juni werde ein Signal sein. Dann beginne der Prozess gegen die mutmasslichen «Auslandagenten», die für die Gezi-Proteste von 2013 verantwortlich gemacht werden. Die erfolgreichen friedlichen Proteste gegen die Einebnung eines Parks und die Errichtung eines Einkaufszentrums seien Erdogan als kränkende Niederlage in Erinnerung geblieben. Umso mehr werde er jetzt mit drakonischen Strafen ein Zeichen setzen und zeigen wollen, wer in Istanbul der Herr im Haus sei. Bereits die Annullierung der regulären Stadtpräsidentenwahlen sei ein klares Signal an die Opposition gewesen, dass die Wahlgänge in der Türkei nur so lange als frei und geheim akzeptiert würden, wie die AKP nicht an Macht verliere.

Als wären der Probleme nicht genug, habe Erdogan die Krise im Verhältnis zu Washington gezielt gesucht. Die Amerikaner hätten am 6. Juni in einem Brief unmissverständlich festgehalten, dass die USA bis zum 31. Juli ihre Kooperation mit der Türkei bezüglich des supermodernen F-35-Kampfjets beenden würden. Wegen Bedenken, es könnten geheime Daten an die Russen gelangen, würden keine Lieferungen von Washington an Ankara erfolgen. Dies werde die einheimische Wirtschaft zusätzlich schwächen, denn die türkische Rüstungs- und Luftfahrtindustrie war in das gemeinsame Projekt eingebunden. Zudem werde im Brief darauf verwiesen, dass sich die USA weitere politische Schritte gegen die Türkei vorbehielten. Das betreffe die zukünftigen Kooperationen zwischen der Türkei und der Nato. Mit Blick auf prekäre geostrategische Entwicklungen und die nach wie vor instabile Lage in den Nachbarländern Syrien und Irak könnte der Wegfall des Schutzes durch das westliche Bündnissystem verheerende Folgen für Ankara haben.

Die türkische Führung wisse um die Fragilität der Allianz mit Russland. Finanzielle Hilfen, um die Wirtschaft zu stabilisieren, könne sie aus Moskau nicht erwarten. Mit seinem autoritär-repressiven Kurs wollte Erdogan den Türken stets beweisen, dass die Hintanstellung von Demokratie, Freiheits- und Menschenrechten das Land handlungsfähiger und erfolgreicher mache. Immer deutlicher würden nun die Grenzen dieser Politik. Die kommenden Tage würden zeigen, wie gross das Vertrauen der Türken in die Politik des Präsidenten noch sei – und ob das «osmanische» AKP-Luftschloss dabei sei, in sich zusammenzufallen.